Explodierende Samenschoten

Behaartes Schaumkraut schleudert seine Samen aktiv mit Höchstgeschwindigkeit in die Luft

2. Juni 2016

Pflanzen haben viele Strategien, um ihre Samen zu verbreiten: Explodierende Samenhülsen sind eine davon. Bislang haben Wissenschaftler angenommen, dass die Energie für die Explosion aus der Verformung der Samenhülsen beim Austrocknen entsteht. Forscher des Max-Planck-Instituts für Pflanzenzüchtungsforschung in Köln haben herausgefunden, dass dies im Falle des Behaarten Schaumkrauts (Cardamine hirsuta) nicht den Tatsachen entspricht. Die Samenhülsen dieser Pflanze warten nicht ab, bis sie vertrocknet sind, bevor sie explodieren. Stattdessen haben sie im Laufe der Evolution eine Zellwand hervorgebracht, die sich wie ein Scharnier schlagartig öffnen kann.

Samenausbreitung des Behaarten Schaumkrauts: Forscher haben mithilfe eines mathematischen Modells die Bewegung der Samenhülsen berechnet. Die blauen Linien zeigen die Formveränderung der Hülse, die Punkte zwei Stellen darauf und ihren Bewegungsverlauf.

Da Pflanzen keine Muskeln haben, sind schnelle Bewegungen wie die der Samenhülsen des Behaarten Schaumkrauts bei Pflanzen sehr selten. Wie es die Samenhülsen trotzdem schaffen, so schnell zu explodieren, haben Wissenschaftler nun unter der Leitung der Pflanzengenetikerin Angela Hay am Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung, entdeckt.

Das explosive Zerspringen der Samenhülsen des Schaumkrauts ist so schnell, dass es nur mit Hochgeschwindigkeitskameras beobachtet werden kann. Richard Bomphrey vom Royal Veterinary College in London erklärt: „Da die Samen so klein sind, bremst der Luftwiderstand sie sofort aus.“ Zum Ausgleich werden die Samen von der Frucht mit Höchstgeschwindigkeit weggeschleudert. Tatsächlich beschleunigen sie innerhalb von einer halben Millisekunde von null auf zehn Meter pro Sekunde.

Zellen ziehen sich zusammen

Die Forscher um Hay haben entdeckt, dass das Geheimnis der explosiven Beschleunigung eine Innovation der Evolution ist: Eine neuartige Fruchtwand, welche elastische Energie durch Wachstum und Ausdehnung speichern und diese Energie im richtigen Entwicklungsstadium schnell freisetzen kann. Bisher waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass die Spannung durch die unterschiedliche Kontraktion der inneren und äußeren Gewebeschichten der Samenhülse beim Austrocknen entsteht. Die Schaumkraut-Hülsen explodieren aber in grünem und wasserhaltigem Zustand und nicht, wenn sie bereits braun und trocken waren.

Die überraschende Entdeckung war, dass die wasserhaltigen Zellen in der äußeren Schicht der Samenhülse sogar ihren inneren Druck nutzen, um sich zusammenzuziehen und auf diese Weise Spannung zu erzeugen. Mit einem dreidimensionalen Modell von Pflanzenzellen demonstrieren die Forscher, dass sich die Zellen verdicken, wenn der innere Druck ansteigt, sich aber in der Länge zusammenziehen - „wie eine Luftmatratze beim Aufblasen dicker wird, sich aber in der Breite zusammenzieht“, erläutert Richard Smith, ein Informatiker am Kölner Max-Planck-Institut.

Zellwand als Scharnier

Eine weitere unerwartete Entdeckung betrifft die Art der Energiefreisetzung. Die Autoren haben herausgefunden, dass sich die Fruchtwand eigentlich der Länge nach aufwickeln würde, um Spannung abzubauen. Ein gebogener Querschnitt verhindert dies jedoch. „Diese geometrische Einschränkung ist auch in einem Spielzeug zu finden, dem Schnapparmband“, erklärt Derek Moulton vom Mathematischen Institut der Universität Oxford. Sowohl bei dem Spielzeug als auch bei der Samenhülse muss der Querschnitt zuerst flach werden, bevor die Spannung plötzlich durch Aufwickeln freigelassen werden kann. Dieser Mechanismus beruht auf einer einzigartigen Geometrie der Zellwand in der Samenhülse: „Die Wand hat die Form eines Scharniers, das sich öffnen kann“, sagt Moulton. Dadurch wird die Fruchtwand im Querschnitt abgeflacht und wickelt sich explosionsartig auf.

Für Hay war die aufregendste Entdeckung die evolutionäre Neuartigkeit dieser klappbaren Zellwand. Aus der Genetik und der mathematischen Modellierung gab es bereits Hinweise, dass dieses Scharnier für das explosive Aufplatzen der Hülse benötigt wird, „aber dieses Scharnier ausschließlich in Pflanzen mit explosiver Samenverbreitung war das entscheidende Beweismittel“, erklärt Hay.

Der anspruchsvolle Mechanismus der explosiven Samenverbreitung des Behaarten Schaumkrauts entstand wahrscheinlich durch leichte Veränderungen der Form bereits existierender Zellkomponenten. Wahrscheinlich sind auch andere, vermeintlich passive Schrumpfungsprozesse beim Vertrocknen tatsächlich aktive Prozesse, insbesondere bei grünen, wasserhaltigen Geweben“, so Smith.

Die Studie ist ein Beispiel für das Potenzial interdisziplinärer Forschung. "In diesem Fall haben wir Beobachtungen durch Kombination der neuesten Modellierungstechniken mit biophysikalischen Messungen und biologischen Experimenten auf genetischer, zellulärer und Organismus-Ebene miteinander verbunden“, sagt Alain Goriely vom Mathematischen Institut der Universität Oxford.

AH/HR

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