Timing ist alles – auch bei Pflanzen

Die Variation der Blattform innerhalb einer Art hängt davon ab, wie schnell sich die Pflanze entwickelt

18. August 2015

Lebewesen unterscheiden sich in ihrem Äußeren von anderen Arten und von anderen Artgenossen. Ihre Gestalt variiert aber auch während ihrer eigenen Entwicklung. Forscher am Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung in Köln haben untersucht, wie unterschiedliche Blattformen innerhalb einer einzigen Pflanzenart – dem Behaarten Schaumkraut – entstehen. Sie haben entdeckt, dass Abweichungen in der Entwicklungsgeschwindigkeit eine Schlüsselrolle spielen. Der Taktgeber für diesen Abstimmungsprozess ist ein Gen, das auch den Blühzeitpunkt bestimmt. Mit der Aktivität des Gens ändert sich die Blattform, da sich die Pflanzen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln. Durch diesen einfachen Mechanismus bringt die Evolution neue Blattformen innerhalb einer Art hervor.

Das Behaarte Schaumkraut (Cardamine hirsuta) entwickelt eine große Vielfalt an Blattformen mit unterschiedlicher Fiederzahl: Variation im fünften Folgeblatt bei unterschiedlichen Linien. (Maßstab: 1 Zentimeter).

Die Wissenschaftler um Miltos Tsiantis vom Kölner Max-Planck-Institut interessieren sich dafür, wie verschiedene Blattformen entstehen. Dafür haben sie sich zuerst auf die Unterschiede zwischen den Arten konzentriert und gezeigt, dass dafür lokale Veränderungen im Wachstum des Gewebes verantwortlich sind. Jetzt haben sie ihr Augenmerk auf Unterschiede innerhalb der Art gelegt, denn auch hier variieren Blattform und -größe. Auch bei einzelnen Pflanzen verändert sich die Blattform im Lauf des Lebenszyklus.

Die Blätter des jungen Behaarten Schaumkrauts (Cardamine hirsuta) sind zum Beispiel einfach geformt und haben wenige Fieder. Wenn die Pflanze älter wird, macht sie komplexere Blätter mit mehr Fiedern. Tsiantis und seine Kollegen wollten wissen, welche Gene für diese Variationen innerhalb der Art verantwortlich sind.

Die Wissenschaftler haben mit zwei Linien gearbeitet. Die Linie Wa stammte aus dem amerikanischen Staat Washington, die Linie Ox aus dem englischen Oxford. Für die Suche nach den Ursachen der unterschiedlichen Blattformen haben sie Kreuzungsexperimente und eine sogenannten QTL-Analyse gemacht. Mit Hilfe einer QTL-Analyse können mehrere Gene gleichzeitig identifiziert werden, die zusammen ein Merkmal verändern.

„Wir haben entdeckt, dass Blattform und Fiederzahl der Blätter eng an den Blühzeitpunkt gekoppelt sind“, sagt Tsiantis. „Die QTL-Analyse zeigte, dass das FLC genannte Gen für den Blühzeitpunkt von zehn identifizierten Gen-Regionen den größten Effekt auf die Blattform hat und fast alle gemessenen Parameter zur Blattform beeinflusst.“ Die Wissenschaftler haben des Weiteren gezeigt, dass die untersuchten Linien unterschiedliche FLC-Allele besitzen, die unterschiedliche Mengen des Genprodukts bilden. Das Oxford-Allel bildet dabei weniger von dem Genprodukt als das aus Washington. Das sorgt nicht nur für ein früheres Blühen und einen verkürzten Lebenszyklus, sondern auch dafür, dass früher mehrfiedrige Blätter vom „Erwachsenen“-Typ entstehen.

„Das Blühzeitgen FLC bestimmt also nicht nur den Zeitpunkt der Blütenbildung. Es kontrolliert auch die Blattform, indem es die Geschwindigkeit beeinflusst, mit der die Pflanze ihr Entwicklungsprogram durchlebt  – ein Phänomen, das als Heterochronie bezeichnet wird“, erklärt Tsiantis. „Wir konnten somit zeigen, dass die Vielfalt der Blattformen beim Behaarten Schaumkrauts nicht durch lokale Wachstums- und musterbildende Prozesse entsteht,  sondern durch Prozessen, die das Wachstum umfassender beeinflussen, indem sie mit dem Tempo der Pflanzenalterung spielen.“

Deutlich wird das am fünften Folgeblatt. In Pflanzen mit dem Oxford-Allel hat das fünfte Folgeblatt sieben Fiedern. Pflanzen mit dem Washington-Allel tragen dagegen nur fünf Fiedern, obwohl die Raten, mit der die Blätter gebildet werden, nicht unterschiedlich sind. Eine weitere interessante Entdeckung ist, dass sich die einzelne Aspekte der Form, etwa ob die Fiedern bohnen- oder keilförmig sind, ebenfalls über die Zeit verändern, jedoch in einem anderen Tempo als die Fiederzahl. Folglich sind die Blattformen der früh- und spät blühenden Pflanzen nicht identisch, und man kann in jedem Pflanzentyp Blattformen finden, die im anderen während der Entwicklung nicht vorkommen. Die Beobachtung, dass sich unterschiedliche Aspekte der Form bei den unterschiedlichen Genotypen mit unterschiedlicher Geschwindigkeiten verändern,  erklärt möglicherweise, wie die Evolution allein durch die Variation eines einzigen Schlüsselfaktors – nämlich der Alterungsrate – verschiedene Formen hervorbringt.

Unterschiede in den Gensequenzen bestimmen den Wissenschaftlern zufolge, wie stark die beiden Allele abgelesen werden. Sie legen fest, wie aktiv ein Allel ist. Die Kölner Wissenschaftler vermuten, dass die Koppelung der Blattentwicklung an die Entwicklungsgeschwindigkeit die Samenbildung beeinflusst. Die Blätter werden für die Fotosynthese genutzt und die Ressourcen für die Samenbildung werden letztendlich durch diesen Prozess bereitgestellt. Möglicherweise können es sich die Pflanzen nicht leisten, früh zu blühen, wenn ihre Blätter noch nicht gut genug entwickelt sind, um mit einem verkürzten Lebenszyklus genügend Ressourcen für die nächste Generation bereitzustellen.

Um diese Hypothese zu prüfen, haben die Wissenschaftler solche Pflanzen aus ihren Pool ausgewählt, die früh blühen und entweder „junge“ Blattformen mit wenig oder „erwachsene“ Blattformen mit vielen Fiedern hatten. Sie fanden heraus, dass Pflanzen mit dem frühblühenden Oxford-Allel und wenig gefiederten Blättern leichtere Samen bildeten als Pflanzen mit mehr Fiedern. Dies lässt vermuten, dass diese Pflanzen weniger Ressourcen produziert und an ihre Samen weitergegeben haben. Die Forscher wollen diese Hypothese nun testen und untersuchen, welche weiteren Prozesse die natürliche Variation der Blattform beeinflussen.

JL/HR

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